Die Bedeutung von „Offenheit“
8. April 2010 | Donnerstag, April 08, 2010
Labels: In eigener Sache
Originalpost veröffentlicht am 21.12.2009, 15:17 Uhr
Letzte Woche habe ich eine E-Mail an alle Googler verschickt, in der es um die Bedeutung von „Offenheit“ in Bezug auf das Internet, Google und unsere Nutzer geht. Ganz im Sinne von Offenheit habe ich mir gedacht, es wäre angemessen, diese Gedanken auch über Google hinaus bekannt zu machen.
Wir von Google sind überzeugt davon, dass offene Systeme langfristig den Sieg davontragen werden. Sie sorgen für mehr Innovationen, Wert und Wahlfreiheit für Verbraucher sowie für ein lebendiges, profitables und wettbewerbsfähiges Umfeld für Unternehmen. Viele Unternehmen dürften in etwa dasselbe behaupten, seit sie erkannt haben, dass Offenheit sich sowohl positiv auf ihre Marke auswirkt als auch vollständig ohne Risiko ist. Doch in unserer Branche gibt es keine klare Definition, was wirklich gemeint ist, wenn man von „offen“ spricht. Es ist ein Begriff, der dem Rashomon-Prinzip folgt: höchst subjektiv und von entscheidender Bedeutung.
Das Thema „Offenheit“ scheint bei Google in letzter Zeit häufig zur Sprache zu kommen. Ich habe schon an Meetings teilgenommen, bei denen es um ein bestimmtes Produkt ging, und auf einmal wirft jemand ein, wir sollten offener sein. Darauf folgt dann eine Debatte, aus der hervorgeht, dass die meisten Anwesenden zwar vom Wert von „Offenheit“ überzeugt sind, wir aber nicht unbedingt einer Meinung sind, was dies in der Praxis bedeutet.
Da mir dies mit ziemlicher Regelmäßigkeit widerfährt, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir unsere Definition von „Offenheit“ mit klaren Begriffen darlegen müssen, die wir alle verstehen und unterstützen. Im Folgenden will ich eine solche Definition geben, die auf meinen Erfahrungen bei Google sowie dem Input einer Reihe von Kollegen basiert. Wir führen das Unternehmen auf Basis dieser Prinzipien und fällen auch unsere Produktentscheidungen danach. Daher möchte ich Sie bitten, sich diese Prinzipien sorgfältig durchzulesen, sich darüber Gedanken zu machen und sie zu diskutieren. Danach sollten Sie sich diese zu eigen machen und sie in Ihre Arbeit einfließen lassen. Dies ist ein komplexes Thema, und falls es darüber eine Debatte gibt (was meiner Meinung nach sicher der Fall sein wird), dann sollte diese offen geführt werden! Daher sind alle Kommentare willkommen.
Unsere Definition von „Offenheit“ beinhaltet zwei Komponenten: offene Technologie und offene Informationen. „Offene Technologie” umfasst Open Source. Das heißt, dass wir Code veröffentlichen und aktiv unterstützen, der hilft, das Internet zu verbessern, und offene Standards, was bedeutet, dass wir uns an akzeptierte Standards halten. Und falls es noch keine gibt, arbeiten wir daran, solche Standards zu erstellen, um das gesamte Internet zu verbessern (und nicht nur zum Vorteil von Google). „Offene Informationen“ bedeutet, dass wir Informationen über unsere Nutzer zu deren Vorteil verwenden, dass wir transparent darlegen, welche Informationen wir über sie besitzen, und ihnen die letztendliche Kontrolle über ihre Informationen geben. Dies sind die Dinge, die wir tun sollten. In vielen Fällen sind wir noch nicht so weit, aber ich hoffe, dass diese Überlegungen dazu beitragen werden, dass wir anfangen, die noch bestehende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen.
Falls wir es schaffen, uns konsequent zu Offenheit zu bekennen – wovon ich überzeugt bin –, dann haben wir eine große Chance, eine Vorreiterrolle einzunehmen und andere Unternehmen und Branchen zu ermutigen, es unserem Vorbild nachzutun. Sollte dies der Fall sein, wird die Welt ein besserer Ort sein.
Offene Systeme gewinnen
Um unsere Position besser zu verstehen, ist es gut, wenn man von Anfang an klarstellt, dass offene Systeme gewinnen. Dies dürfte der Intuition eines traditionell geschulten MBA völlig widersprechen. Der hat gelernt, sich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil dadurch zu verschaffen, dass man ein geschlossenes System erstellt, diesem zu weiter Verbreitung verhilft und es dann über den gesamten Produktlebenszyklus profitabel ausschlachtet. Der gesunde Menschenverstand sagt einem eigentlich, dass Unternehmen versuchen sollten, ihre Kunden eng an sich zu binden, um sich die Konkurrenz vom Hals zu halten. Es gibt unterschiedliche taktische Konzepte: Rasiererhersteller machen die Rasierer billig, aber die Klingen teuer. Während die alte IBM Mainframes teuer gemacht hat und die Software ... nun ja, auch teuer. Wie auch immer, ein wohl durchdachtes geschlossenes System kann eine Menge Profit abwerfen. So kann man kurzfristig auch gut entwickelte Produkte liefern. Der iPod und das iPhone sind hier anschauliche Beispiele. Aber letztlich tendieren Innovationen in einem geschlossenen System im Laufe der Zeit dazu, bestenfalls schrittweise zu verlaufen: Denn ist ein Rasierer mit Vierfachklinge wirklich wesentlich besser als einer mit einer Dreifachklinge? Denn es geht vor allem darum, den Status quo zu wahren. Selbstzufriedenheit ist das Markenzeichen jedes geschlossenen Systems. Wenn man sich nicht sonderlich darum bemühen muss, seine Kunden zu halten, wird man nachlässig.
Offene Systeme sind das genaue Gegenteil: Sie sind wettbewerbsfähig und wesentlich dynamischer. In einem offenen System entsteht ein Wettbewerbsvorteil nicht daraus, Kunden ausschließlich an sich zu binden, sondern darin, das sich schnell ändernde System besser als jeder andere zu verstehen und dieses Know-how einzusetzen, um bessere und innovativere Produkte zu erstellen. Eine erfolgreiche Firma in einem offenen System ist gleichzeitig schneller Innovator wie auch Vordenker. Der Markenwert der Vordenkerschaft zieht Kunden an und die schnellen Innovationen halten Kunden. Dies ist beileibe nicht einfach, aber schnelle Unternehmen brauchen nichts zu fürchten. Und wenn sie erfolgreich sind, können sie enormen Wert für ihre Anteilseigner schaffen.
Offene Systeme haben das Potential, neue Branchen zu kreieren. Sie nutzen die Intelligenz der breiten Masse und treiben Unternehmen an, in Wettbewerb miteinander zu treten, innovativ zu sein und Kunden für sich zu gewinnen – aufgrund der Vorzüge ihrer Produkte und nicht nur wegen ihrer brillanten Unternehmenstaktik. Das Wettrennen zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist ein gutes Beispiel dafür.
In ihrem Buch Wikinomics erläutern Don Tapscott und Anthony Williams, wie Mitte der 1990er Jahre private Firmen große Teile der DNA-Sequenzdaten entdeckten und patentierten und dann die Kontrolle darüber übernahmen, wer zu welchem Preis auf diese Informationen zugreifen durfte. Ein so großer Teil des menschlichen Genoms in Privatbesitz lies die Kosten ansteigen und machte die Entdeckung neuer Medikamente weitaus weniger effizient. 1995 änderten Merck Pharmaceuticals und das Gene Sequencing Center der Washington University die Spielregeln, indem sie eine neue, offene Initiative namens Merck Gene Index ins Leben riefen. Innerhalb von drei Jahren hatten sie über 800.000 Gensequenzen für jedermann zugänglich veröffentlicht und schon bald schlossen sich ihnen andere kooperative Projekte an. Und dies in einer Branche, in der Grundlagenforschung traditionell einzeln und hinter geschlossenen Labortüren stattfand. Mercks offener Ansatz hat also nicht nur die Kultur des gesamten Fachgebiets verändert, sondern auch das Tempo der biomedizinischen Forschung und Medikamentenentwicklung beschleunigt. Damit hatten Forscher auf der ganzen Welt uneingeschränkten Zugriff auf eine offene Ressource mit den genetischen Informationen.
Eine andere Sichtweise auf den Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Systemen besteht darin, dass offene Systeme Innovationen auf allen Ebenen ermöglichen, vom Betriebssystem bis zur Anwendungsebene – und nicht nur ganz oben. Das bedeutet, dass eine Firma nicht vom Wohlwollen einer anderen Firma abhängig ist, um ein Produkt auf den Markt zu bringen. Wenn der GNU C-Compiler, den ich verwende, einen Bug aufweist, kann ich den beheben, da der Compiler Open Source ist. Ich muss keinen Bug Report erstellen und hoffen, dass der Fehler möglichst bald beseitigt wird.
Wenn man also versucht, eine gesamte Branche möglichst umfassend voranzubringen, geht nichts über offene Systeme. Und das ist genau das, was wir mit dem Internet versuchen. Unser Einsatz für offene Systeme ist nicht altruistisch. Vielmehr ist dies ein gutes Geschäft, denn ein offenes Internet sorgt für einen stetigen Strom von Innovationen, die Nutzer und Nutzung anziehen und das Wachstum der gesamten Branche vorantreibt. Hal Varian präsentiert in seinem Buch Information Rules eine Gleichung, die auch hier gilt:
Rendite = (zur Branche hinzugefügter Gesamtwert) * (unser Anteil am Branchenwert)
Wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben, sollte also eine zehnprozentige Erhöhung des Marktanteils unterm Strich zum selben Ergebnis führen wie eine zehnprozentige Steigerung des Branchenwerts. Doch in unserer Branche wird eine Steigerung des Branchenwerts um zehn Prozent zu einer wesentlich höheren Rendite führen, weil dadurch Skalenvorteile in der gesamten Branche erzeugt werden, welche die Produktivität steigern und die Kosten für alle Wettbewerber senken. Solange wir einen steten Strom hervorragender Produkte hervorbringen, werden wir zusammen mit dem gesamten Umfeld prosperieren. Unser Anteil am Kuchen mag zwar kleiner sein, aber der gesamte Kuchen wird größer sein.
Mit anderen Worten: Googles Zukunft hängt davon ab, ob das Internet ein offenes System bleibt. Unser Eintreten für Offenheit wird das Web für alle wachsen lassen – auch für Google.
Offene Technologie
Die Definition von Offenheit beginnt mit den Technologien, auf denen das Internet gründet: offene Standards und Open-Source-Software.
Offene Standards
Netze waren schon immer abhängig von Standards, um erfolgreich zu sein. Als Anfang des 19. Jahrhunderts das erste Schienennetz in den USA verlegt wurde, gab es sieben unterschiedliche Standards für Spurweiten. Das Netz war erst dann erfolgreich und wurde gen Westen ausgebaut, als sich die einzelnen Eisenbahnunternehmen auf eine Standardspurweite von 4 Fuß 8½ Zoll (1435 mm) einigten. (In diesem Fall lag dem Krieg der Standards ein tatsächlicher Krieg zugrunde: Die Eisenbahngesellschaften der Südstaaten waren nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg gezwungen, mehr als 11.000 Meilen Schienenstränge entsprechend dem neuen Standard umzurüsten.)
Es gab also einige Präzedenzfälle, als 1974 Vint Cerf und seine Kollegen vorschlugen, einen offenen Standard (aus dem TCP/IP hervorging) zu verwenden, um mehrere Computernetzwerke, die in den USA entstanden waren, miteinander zu verbinden. Sie wussten nicht genau, wie viele Netzwerke es gab. Daher musste das „Internet“ – wie Vint Cerf es nannte – offen sein. Jedes Netzwerk konnte mit Hilfe von TCP/IP angebunden werden. Und dank dieser Entscheidung gibt es inzwischen fast 681 Millionen Hostcomputer im Internet.
Heutzutage basieren unsere Produkte für Entwickler auf offenen Standards, weil Interoperabilität ein entscheidender Aspekt bei den Entscheidungen der Nutzer ist. Was bedeutet dies für Produktmanager und Ingenieure von Google? Ganz einfach: Wann immer möglich sollten sie vorhandene offene Standards verwenden. Und falls Sie in einem Bereich aktiv werden, wo es keine offenen Standards gibt, dann schaffen Sie welche. Falls vorhandene Standards nicht so gut sind wie erwartet, sollten Sie daran arbeiten, sie zu verbessern. Dabei sollten diese Verbesserungen möglichst einfach und möglichst gutdokumentiert sein. Unsere oberste Priorität sollten immer die Nutzer und die Branche als Ganzes sein, nicht nur der Vorteil für Google. Daher sollten Sie auch mit Standardisierungsorganisationen zusammenarbeiten, um unsere Änderungen in die akzeptierten Spezifikationen einfließen zu lassen.
Damit haben wir bislang sehr gute Erfahrungen gemacht. In den Anfangsjahren des Google Data Protocol (unseres Standard-API-Protokolls, das auf XML/Atom basiert) haben wir in der IETF Atom Protocol Working Group mitgearbeitet, um die Atom-Spezifikation zu erstellen. Und es gibt unsere kürzliche Zusammenarbeit mit dem W3C, um eine standardisierte API für Geodaten zu schaffen, die es Entwicklern erleichtern würde, browserbasierte, standortabhängige Anwendungen zu erstellen. Dieser Standard ist für alle nützlich, nicht nur für uns. Und er wird dafür sorgen, dass Nutzer Zugriff auf viel mehr attraktive Anwendungen von Tausenden von Entwicklern haben werden.
Open Source
Die meisten dieser Anwendungen werden auf Open-Source-Software aufbauen, einem Phänomen, das in den vergangenen 15 Jahren für das explosive Wachstum des Internets verantwortlich war. Auch hier gibt es ein historisches Vorbild: Der Begriff „Open Source” wurde zwar erst Ende der 1990er Jahre geprägt, aber das Konzept, wertvolle Informationen zu teilen, um eine Branche voranzubringen, existierte schon lange vor dem Internet. Anfang des 20. Jahrhunderts traf die US-Automobilindustrie eine Vereinbarung zur gegenseitigen Lizenzierung, nach der Patente offen und ungehindert zwischen den Herstellern ausgetauscht wurden. Bevor es diese Vereinbarung gab, hatten die Besitzer des Patents für den Zweitaktbenzinmotor quasi die gesamte Branche in der Hand.
Das heutige Open-Source-Konzept geht dabei wesentlich über den „Patentaustausch” der ersten Autohersteller hinaus und hat zur Entwicklung der ausgereiften Softwarekomponenten geführt (Linux, Apache, ssh und andere), auf denen Google aufbaut. In der Tat verwenden wir zig Millionen Zeilen von Open-Source-Code für unsere Produkte. Wir geben aber auch etwas zurück. Wir sind das Unternehmen, das weltweit den größten Beitrag zu Open Source leistet: mehr als 800 Projekte mit insgesamt über 20 Millionen Codezeilen, wobei vier Projekte (Chrome, Android, Chrome OS und Google Web Toolkit) jeweils über eine Million Codezeilen aufweisen. Wir haben Teams, die mit ihrer Arbeit Mozilla und Apache unterstützen sowie einen Open-Source-Hosting-Service für Projekte (code.google.com/hosting), der mehr als 250.000 Projekte hostet. Diese Aktivitäten stellen nicht nur sicher, dass andere uns helfen können, die bestmöglichen Produkte zu erstellen, sondern es bedeutet auch, dass andere unsere Software als Basis für ihre eigenen Produkte verwenden können, falls wir keine entsprechenden Innovationen zu bieten haben.
Wenn wir unseren Code als Open Source zugänglich machen, verwenden wir die standardmäßige, offene Apache 2.0-Lizenz, was bedeutet, dass wir keine Kontrolle über den Code behalten. Andere können unseren Open-Source-Code nehmen, modifizieren, schließen und als ihren eigenen verkaufen. Android ist dafür ein klassisches Beispiel. Einige OEM-Hersteller haben den Code bereits übernommen und tolle Dinge damit angestellt. Dieser Ansatz birgt allerdings auch Risiken, denn die Software kann in unterschiedliche Zweige fragmentiert werden, die nicht gut zusammenarbeiten. (Man erinnere sich nur daran, wie Unix für Workstations sich in unterschiedliche Richtungen entwickelte: Apollo, Sun, HP etc.). Dies ist etwas, was wir bei Android unbedingt vermeiden wollen.
Wir sind zwar sehr dafür, den Code für unsere Entwicklertools offenzulegen, doch nicht alle Google-Produkte sind Open Source. Unser Ziel ist es, das Internet offen zu halten, was für Auswahl und Wettbewerb sorgt und verhindert, dass Nutzer und Entwickler eingeengt werden. In vielen Fällen würde eine Offenlegung des Codes nicht zu diesen Zielen beitragen oder sogar für unsere Nutzer schädlich sein, vor allem bei unseren Suchmaschinen- und Anzeigenprodukten. Auf den Märkten für Suchmaschinen und Onlinewerbung herrscht bereits reger Wettbewerb. Und die Kosten für einen Anbieterwechsel sind sehr niedrig, so dass Nutzer und Werbekunden bereits eine Vielzahl von Wahlmöglichkeiten haben und nicht eingeschränkt sind. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Offenlegung dieser Systeme es Leuten erlauben würde, mit unseren Algorithmen „herumzuspielen“, um Suchergebnisse und das Ranking der Werbeanzeigen zu manipulieren, was unsere Qualität für alle Nutzer verringern würde.
Wenn Sie also an Ihrem Produkt arbeiten oder neue Features hinzufügen, sollten Sie einmal innehalten und sich die Frage stellen: Würde eine Offenlegung dieses Code ein offenes Internet fördern? Würde dies die Wahlmöglichkeiten für Nutzer, Werbende und Partner vermehren? Würde dies zu mehr Wettbewerb und Innovationen führen? Falls dem so ist, dann sollten Sie den Code als Open Source veröffentlichen. Doch wenn Sie dies tun, tun Sie es richtig. Geben Sie den Code nicht einfach nur für die Öffentlichkeit frei und kümmern Sie sich dann nicht weiter darum. Stellen Sie sicher, dass Sie auch über die notwendigen Ressourcen verfügen, um sich auch weiterhin um den Code zu bemühen und Entwickler dafür zu gewinnen. Das Google Web Toolkit, das wir offen entwickelt und für das wir einen öffentlichen Bugtracker sowie ein ebensolches Quellecodekontrollsystem verwendet haben, ist ein gutes Beispiel dafür.
Offene Informationen
Das Aufkommen von offenen Standards und Open Source hat zu einem Internet geführt, wo regelmäßig enorme Mengen persönlicher Informationen hochgeladen werden: Fotos, Kontakte, aktuelle Informationen. Die pure Menge der gemeinsam genutzten Informationen sowie die Tatsache, dass diese für immer gespeichert werden können, wirft eine Frage auf, die noch vor ein wenigen Jahren kaum zur Debatte stand: Wie gehen wir mit all diesen Informationen um?
Historisch gesehen haben neue Informationstechnologien häufig zu neuen Geschäftsmodellen geführt. Als zum Beispiel Händler im Mittelmeerraum etwa 3000 v. Chr. Siegel erfanden (bullae genannt) um sicherzustellen, dass ihre Lieferungen ihr Ziel ohne Manipulation erreichten, transformierten sie den lokalen Handel zum Fernhandel. Ähnliche Transformationen wurden durch das Aufkommen der Schrift und in der jüngsten Gegenwart durch Computer vorangetrieben. Bei jedem Schritt auf diesem Weg wurde die Transaktion, also eine einvernehmliche Vereinbarung, bei der jede Partei einen Vorteil hat, durch eine neue Art von Informationen befördert, die dafür sorgte, dass ein Vertrag auch umgesetzt werden konnte.
Im Internet besteht das neue Geschäftsmodell darin, persönliche Informationen gegen etwas von Wert einzutauschen. Dies ist eine Transaktion, an der Millionen von uns tagtäglich teilnehmen. Und sie bietet potentiell enorme Vorteile. Ein Kfz-Versicherer könnte zum Beispiel das Fahrverhalten eines Kunden in Echtzeit überwachen und für eine überlegte Fahrweise einen Rabatt geben – oder einen Aufschlag für zu schnelles Fahren verlangen. Dies wäre mit Hilfe von Informationen möglich (GPS-Tracking), die noch vor wenigen Jahren noch nicht verfügbar waren. Dies ist eine recht einfache Transaktion, aber wir werden sicher auch wesentlich raffiniertere Szenarien erleben.
Angenommen, Ihre Tochter hat eine Allergie gegen bestimmte Medikamente. Würden Sie zulassen, dass ihre medizinischen Daten für eine intelligente drahtlose Injektionsspritze zugänglich sind, die verhindert, dass ein Rettungssanitäter oder eine Krankenschwester ihr versehentlich eine solche Medizin verabreichen? Ich würde dies tun. Aber Sie meinen vielleicht, das Metallarmband an ihrem Handgelenk würde ausreichen. Das genau ist der springende Punkt: Die Menschen können und werden unterschiedliche Entscheidungen treffen. Und wenn es um ihre persönlichen Daten geht, müssen wir all diese Entscheidungen gleichermaßen mit Respekt behandeln.
Mehr persönliche Daten online zur Verfügung zu haben, kann also zwar für jedermann recht vorteilhaft sein, doch deren Nutzung sollte von Prinzipien geleitet sein, die verantwortlich, skalierbar und flexibel genug sind, um mit dem Wachstum und den Veränderungen in unserer Branche Schritt halten zu können. Und im Unterschied zu offener Technologie, bei der unser Ziel darin besteht, das gesamte Internet voranzubringen, besteht unser Ansatz hinsichtlich offener Informationen darin, Vertrauen zu den Einzelpersonen aufzubauen, die dieses System verwenden (Nutzer, Partner und Kunden). Vertrauen ist online die wichtigste Währung. Um dieses aufzubauen, halten wir uns an drei Prinzipien hinsichtlich offener Informationen: Nutzen, Transparenz und Kontrolle.
Nutzen
Zuerst und vor allem müssen wir Produkte herausbringen, die wertvoll für die Nutzer sind. In vielen Fällen können wir unsere Produkte sogar besser machen, wenn wir mehr Informationen über die Nutzer haben. Aber hier können Bedenken wegen des Datenschutzes aufkommen, falls die Leute nicht verstehen, welchen Nutzen sie als Gegenleistung für ihre Daten erhalten. Wenn Sie ihnen hingegen diesen Nutzen erklären, werden sie der Transaktion häufig zustimmen. Millionen von Menschen erlauben zum Beispiel Kreditkartenunternehmen, Informationen über ihre Einkäufe zu speichern, im Austausch für die Bequemlichkeit, kein Bargeld mit sich führen zu müssen.
Genau so haben wir es gemacht, als wir letzten März Interest-Based Advertising gestartet haben. IBA macht Werbung relevanter und nützlicher. Dies ist der Zusatznutzen, den wir aufgrund der von uns gesammelten Informationen bieten können. Hierzu gehört auch ein Manager für Anzeigeneinstellungen, der deutlich erklärt, was die Nutzer im Austausch für ihre Informationen als Gegenwert erhalten, und ihnen die Möglichkeit gibt, die entsprechenden Einstellungen zu deaktivieren oder anzupassen. Die große Mehrzahl der Nutzer, die diesen Manager nutzen, entscheiden sich dafür, ihre Einstellungen anzupassen, statt vollständig zu deaktivieren, weil sie erkennen, welchen Nutzen sie davon haben, auf ihre Interessen zugeschnittene Anzeigen zu erhalten.
Dies sollte unsere standardmäßige Vorgehensweise sein: den Leuten in einfacher, verständlicher Sprache erklären, was wir über sie wissen und warum es für sie nützlich ist, dass wir es wissen. Sie sind der Meinung, der Nutzen Ihres Produkts ist so offensichtlich, dass man ihn nicht erklären muss? Da liegen Sie mit großer Wahrscheinlichkeit falsch.
Transparenz
Als Nächstes müssen wir es den Nutzern möglichst einfach machen herauszufinden, welche Informationen wir mit all unseren Produkten über sie sammeln und speichern. Erst kürzlich haben wir einen großen Schritt in diese Richtung getan, und zwar mit der Einführung des Google Dashboard. Dies ist eine zentrale Stelle, wo die Nutzer sehen können, welche persönlichen Daten von jedem Google-Produkt gespeichert werden (von mehr als 20 Produkten, darunter Google Mail, YouTube und die Suchmaschine), und ihre persönlichen Einstellungen kontrollieren. Soweit wir wissen, sind wir das erste Internetunternehmen, das einen solchen Service anbietet, und wir hoffen, dass dies Standard wird. Ein weiteres gutes Beispiel sind unsere Datenschutzbestimmungen, die für Normalsterbliche formuliert sind und nicht nur für Juristen.
Und wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen. Falls Sie für ein Verbraucherprodukt zuständig sind und Informationen von Ihren Nutzern sammeln, sollte Ihr Produkt in das Dashboard aufgenommen werden. Und selbst wenn dies bereits der Fall ist, sind Sie noch nicht fertig. Mit jedem neuen Feature oder jeder neuen Version sollten Sie sich die Frage stellen, ob Sie zusätzliche Daten sammeln (eventuell sogar Informationen, die auf anderen Webseiten öffentlich über die Nutzer zugänglich ist), die Sie dem Dashboard hinzufügen können.
Und denken Sie auch darüber nach, wie Sie innerhalb Ihres Produkts für größere Transparenz sorgen können. Wenn Sie zum Beispiel eine Android-Anwendung herunterladen, zeigt Ihnen das Gerät an, auf welche Daten über Sie und Ihr Telefon die Anwendung zugreifen kann. Dann können Sie entscheiden, ob Sie fortfahren wollen oder nicht. Sie müssen nicht selber umständlich danach suchen, welche Informationen Sie offenlegen. Vielmehr teilt Ihnen die Anwendung das von vornherein mit und Sie können entscheiden, was Sie tun möchten. Entspricht Ihr Produkt dieser Beschreibung? Wie können Sie für eine aktivere Nutzung Ihres Produkts sorgen, indem Sie die Transparenz verbessern?
Kontrolle
Und schließlich müssen wir jederzeit dem Nutzer die endgültige Kontrolle überlassen. Falls wir Daten über einen Nutzer gespeichert haben, wie bei IBA, dann sollte es für den Nutzer einfach sein, diese Daten zu löschen und den Service zu deaktivieren. Falls die Nutzer unsere Produkte verwenden und Inhalte bei uns speichern, dann sind es immer noch deren Inhalte, nicht unsere. Sie sollten die Inhalte jederzeit exportieren oder löschen können, kostenlos und so einfach wie möglich. Google Mail ist dafür ein hervorragendes Beispiel, denn wir bieten die kostenlose Weiterleitung an jede beliebige E-Mail-Adresse. Die Möglichkeit, wechseln zu können, ist dabei entscheidend. Statt Mauern um Ihr Produkt hochzuziehen, sollten Sie lieber Brücken bauen. Bieten Sie den Nutzern echte Optionen.
Falls Standards für die Verarbeitung von Nutzerdaten vorhanden sind, dann sollten wir uns an diese halten. Falls kein Standard existiert, sollten wir daran arbeiten, einen entsprechenden offenen Standard zu erstellen, von dem das gesamte Internet profitiert, selbst wenn ein geschlossener Standard für uns besser zu sein scheint. (Denken Sie immer daran: Er ist es nicht!). In der Zwischenzeit müssen wir unser Möglichstes tun, um Google so einfach wie möglich zu halten. Google ist nicht das „Hotel California“ – man kann jederzeit auschecken und es tatsächlich verlassen!
Wie Eric [Schmidt] es in seinen strategischen Überlegungen 2009 gesagt hat: „Wir halten Nutzer nicht fest, sondern wir erleichtern ihnen, zur Konkurrenz zu wechseln.“ Diese Richtlinie ist so etwas wie die Notausstiege bei einem Flugzeug (eine Analogie, die unser CEO-Pilot sicher schätzen würde). Man hofft, dass man sie nie braucht, aber man ist froh, dass sie da sind und würde sich ziemlich aufregen, wenn sie fehlen würden.
Das ist der Grund, weshalb wir ein extra Team haben, die Data Liberation Front (dataliberation.org), dessen Aufgabe es ist, das „Auschecken“ möglichst einfach zu machen. Aktuelle Beispiele für ihre Arbeit sind Blogger (Nutzer, die sich entscheiden, Blogger zu verlassen und einen anderen Service zu nutzen, können ihre Inhalte einfach mitnehmen) und Text & Tabellen (Nutzer können all ihre Dokumente, Präsentationen und Kalkulationstabellen in einer Zip-Datei zusammenfassen und herunterladen). Entwerfen Sie Ihre Produkte so, dass das Data Liberation Team damit einfach zurechtkommt. Eine Möglichkeit hierfür ist eine gute öffentliche API, die all Ihre Nutzerdaten zugänglich macht. Dies sollte nicht bis Version 2 oder 3 aufgeschoben werden, sondern von Anfang an im Rahmen Ihrer Produktplanung besprochen und als Feature Ihres Produkts aufgenommen werden.
Reporter des Guardian, einer führenden britischen Tageszeitung, haben die Arbeit des Data Liberation Team unter die Lupe genommen und festgestellt, dass diese „der Intuition [all jener] widerspricht, die die Abschottungsmentalität bisheriger Konkurrenzkämpfe in der Wirtschaft gewohnt sind“. Damit haben sie Recht. Dies widerspricht den Vorstellungen von Leuten, die noch dem alten MBA-Denken verhaftet sind. Doch wenn wir auf unserem Weg weitermachen, wird sich dies schon bald ändern. Unser Ziel ist es, Offenheit zum Standard zu erheben. Die Nutzer werden sich davon angezogen fühlen. Dann werden sie Offenheit auch anderswo erwarten und verlangen und schließlich erbost sein, wenn sie sie nicht geboten bekommen. Wenn Offenheit das ist, an das man als Erstes denkt, dann sind wir erfolgreich gewesen.
Wenn größer besser ist
Geschlossene Systeme sind wohldefiniert und profitabel, doch nur für diejenigen, die sie kontrollieren. Offene Systeme sind chaotisch und profitabel, aber nur für diejenigen, die sie gut verstehen und schneller agieren als alle anderen. Geschlossene Systeme wachsen schnell, während offene Systeme sich eher langsamer fortentwickeln. Auf Offenheit zu setzen, erfordert daher Optimismus, Willenskraft und Mittel für langfristiges Denken. Glücklicherweise verfügt Google über alle drei dieser Voraussetzungen.
Wegen unserer Reichweite, unseres technischen Know-hows und unserer Lust auf große Projekte können wir große Herausforderungen in Angriff nehmen, die umfangreiche Investitionen erfordern und auf den ersten Blick nicht unmittelbar Profit abwerfen. Wir können alle Straßen der Welt fotografieren, so dass Sie die Nachbarschaft einer Wohnung erkunden können, die Sie mieten möchten, und das aus Tausenden von Kilometern Entfernung. Wir können Millionen von Büchern einscannen und diese allgemein zugänglich machen (während wir gleichzeitig die Rechte von Verlagen und Autoren respektieren). Wir können ein E-Mail-System erstellen, das Gigabyte an Speicherplatz bietet (inzwischen über 7 GB), während alle ähnlichen Services nur einen kleinen Bruchteil davon bieten. Wir können unverzüglich Webseiten aus 51 Sprachen übersetzten. Wir können Suchanfragen auswerten, um Gesundheitsbehörden zu helfen, Grippewellen wesentlich früher zu entdecken. Wir können einen schnelleren Browser entwickeln (Chrome), ein besseres Handybetriebssystem (Android) und eine völlig neuartige Kommunikationsplattform (Wave) und diese dann für alle öffnen, so dass jeder darauf aufbauen, sie anpassen und verbessern kann.
Wir können all diese Dinge tun, weil es sich dabei um informationsbezogene Probleme handelt, und wir über die Computerwissenschaftler, die Technologie und die Rechenleistung verfügen, um diese Probleme zu lösen. Und unsere Lösungen machen zahlreiche Plattformen (Video, Karten, Handys, PCs, Sprachanwendungen, Unternehmensanwendungen) besser, wettbewerbsfähiger und innovativer. Wir werden häufig angegriffen, weil wir zu groß sind. Doch manchmal erlaubt uns unsere Größe auch, unmöglich erscheinende Aufgaben anzupacken.
All diese Bemühungen sind jedoch sinnlos, wenn wir es nicht schaffen, gleichzeitig auch für Offenheit zu sorgen. Daher müssen wir uns immer wieder selbst einen Schubs geben. Tragen wir zu offenen Standards bei, die sich positiv auf die gesamte Branche auswirken? Was hält uns davon ab, unseren Code als Open Source freizugeben? Bieten wir unseren Nutzern Nutzen, Transparenz und Kontrolle? Öffnen Sie sich so viel und so oft Sie können. Und falls jemand in Frage stellt, ob dies ein guter Ansatz ist, dann erklären Sie ihm, warum dies nicht nur ein guter, sondern sogar der beste Ansatz ist. Es ist ein Ansatz, der Wirtschaft und Handel in diesem noch jungen Jahrhundert transformieren wird. Und wenn wir dabei erfolgreich sind, werden die MBA-Lehrbücher für die nächsten Jahrzehnte komplett neu geschrieben werden müssen!
Ein offenes Internet transformiert das Leben aller Menschen weltweit. Es hat das Potential, alle Informationen der Welt jedermann unmittelbar verfügbar zu machen und jedermann die Freiheit zu geben, sich individuell auszudrücken. Diese Vorhersagen habe ich in einer E-Mail formuliert, die ich Anfang dieses Jahres an Sie verschickt und später als Blog-Post veröffentlicht habe. Es ist meine Vision für die Zukunft des Internets. Nun jedoch spreche ich von Taten, nicht von Visionen. Es gibt Kräfte, die sich einem offenen Internet entgegenstellen: Regierungen, die den Zugang zum Internet kontrollieren, Unternehmen, die aus purem Eigeninteresse den Status quo wahren wollen. Dies sind mächtige Gegner. Und sollten sie erfolgreich sein, werden wir ein Internet vorfinden, das durch Fragmentierung, Stagnation, höhere Preise und weniger Wettbewerb gekennzeichnet ist.
Unsere Fertigkeiten und unsere Kultur geben uns die Gelegenheit, aber auch die Verantwortung, dies zu verhindern. Wir sind von der Leistungsfähigkeit von Technologie überzeugt, Informationen bereitzustellen. Wir sind von der Macht von Informationen überzeugt, Gutes zu bewirken. Wir sind überzeugt, dass Offenheit der einzige Weg ist, um dies für möglichst viele Menschen zu ermöglichen. Wir sind Technologieoptimisten, die darauf vertrauen, dass das Chaos, das Offenheit mit sich bringt, zu jedermanns Vorteil gereicht. Und wir werden uns – bei jeder sich bietenden Gelegenheit – nach Kräften für dieses Prinzip einsetzen.
Offenheit wird den Sieg davontragen. Offenheit wird im Internet den Sieg davontragen und dann auf viele andere Lebensbereiche übergreifen: Die Zukunft des Regierens heißt Transparenz. Die Zukunft des Handels heißt Informationssymmetrie. Die Zukunft der Kultur heißt Freiheit. Die Zukunft von Wissenschaft und Medizin heißt Zusammenarbeit. Die Zukunft der Unterhaltung heißt Teilnahme. Jedes dieser Zukunftsszenarien hängt ab von der Offenheit des Internets.
Als Produktmanager von Google entwickeln Sie etwas, das uns alle überdauern wird. Und niemand von uns kann sich vorstellen, auf welche Weise Google wachsen und Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben wird. In dieser Hinsicht ähneln wir unserem Kollegen Vint Cerf. Der wusste auch nicht genau, wie viele Netzwerke Bestandteil dieses „Internets“ sein würden. Daher sorgte er standardmäßig dafür, dass es offen ist. Damit hat er genau das Richtige getan. Ich bin überzeugt davon, dass wir dies auch tun.
Post von Jonathan Rosenberg, Senior Vice President, Product Management